Defragmentation by Hakan Civelek

Bedeutet weniger arbeiten gleich mehr Lebensqualität?

Vorspiel

Mittwoch, 18.11.20. 3 Uhr aufgewacht. Verwirrt nach einer Ursache gesucht. Keine gefunden. Wieder einschlafen. Nein. Das funktioniert nicht. Also; lese ich das Buch »Zwei Fremde im Zug« (Amazon Werbelink) von Patricia Highsmith, weiter. Das Lesen half mal. Ich bin müde, doch zum Einschlafen reichte es vorher nicht und jetzt auch nicht. Nach frühestens zwei Stunden schlafe ich ein.

Aufwärmen und in Lauerstellung

Ich bin wach. Irgendwann. Zermürbt durch die Nacht. Mein Gesicht fühlt sich an, als wären Teile davon falsch verschoben worden. Ich stehe auf und finde mich in einem seltsamen Dämmerzustand wieder, bei dem der Schlaf noch an einem zerrt und die Nacht tiefdunkel um die Augen leuchtet. Finster schwarz. Der Schmerz lauert im Hintergrund und wartet auf seinen Moment. Mein Kopf ist vorgewarnt und in gereizter Abwehrstellung. Mein Körper wärmt sich bereits auf.

Ich sitze gedankenverloren vor dem Notebook und lese meine Mails. Mails kann man in jedem Zustand lesen und manchmal sind sie der beste Wachmacher bzw. Aufreger. Dann bleibt mein Blick an der Email wegen der 40-Stunden-Woche hängen.

Tanz auf dem Berg

Mittwoch!

Jetzt fällt es mir wieder ein: heute ist Mittwoch. Irgendwo in meinem wirren Kopf findet sich etwas am richtigen Platz wieder.  Der Tag in der Mitte der Woche, denke ich mir. Bergfest nennt es eine Kollegin. Und dann wird mir klar: Mein Schlafproblem folgt einem Muster!

Meine Schlaf-App hat mich gestern wieder vor dem Schlafengehen vorgewarnt. Es hatte bereits bemerkt und mich früh darauf aufmerksam gemacht – oder hat mich die App stigmatisiert? Von der Nacht von Dienstag auf Mittwoch würde ich schlechter schlafen.

Ich tat es als Scherz ab. Doch jetzt im Rückblick scheint die App recht zu haben und – ich glaube, es erklären zu können.

Das Wochenende räumt Freiheiten ein, die sich in späteren und längeren Schlafenzeiten niederschlagen. Und dann kommt der kalte Montag, der diesen bekannten Rhythmus stört. Später einschlafen gepaart mit frühem Aufstehen. Im Gegensatz zum Wochenende zieht sich diese Umgewöhnung des Einschlafens und Aufstehens in der Woche über mehrere Tage hinweg in die Länge.

Endlose E-Mails

Ach ja, das fällt es mir wieder ein. Ich sitze ja vor meinen Emails. Die erste Arbeitshandlung beginnt mit dem Aufruf von MS Outlook. Und kaum baut sich das Programm auf, drängen sich darin neue Emails als hätten sie sich über Nacht vermehrt, bevor ich die Zeit hatte, mich von denen der Vortage zu trennen. An denen flackern noch rote Fahnen, damit ich nicht vergesse, dass sie wichtig sind und auf Antwort pochen.

Und dann fällt mir, noch immer nicht wach, diese eine Mail auf.

Die Überschrift kenne ich doch!

Hatte ich sie nicht bereits beantwortet?

Darin ging es um die Frage, ob ich meine Wochenarbeitszeit nicht auf 40 Stunden erhöhen möchte. Also mehr Arbeit und mehr Gehalt.

Wäre ich nicht so müde, wäre ich jetzt wach – oder zumindest: wacher. Aber meine Augenbrauen, die sich zusammenziehen und versuchen, ein skeptisches Fragezeichen zu formen, führen zu halb verschlossenen Augen, die mich näher dem Schlaf als allem anderen bringen.

Aufstieg und Abstieg

Normalerweise, würde man ja denken, dass einen die tägliche Müdigkeit früher ins Bett treibt, aber da kommt die Arbeit ins Spiel.

Am Montag bis zum Dienstag ist sie bei mir am stressigsten – vermutlich eine angespannte Situation, weil es so viel zu tun gibt. Am Mittwoch scheint sie ihren Höhepunkt erreicht zu haben, weil ich dann die meiste Arbeit abgearbeitet habe bzw. die Probleme zu lösen weiß bzw. kenne oder mich daran gewöhnt habe, um dann passend zum Wochenende sich auf einem niedrigen Niveau einzupendeln. Und am Montag geht das gleiche Spiel von vorne los. Manchmal gleicht es einer Sisyphusarbeit mit einem Felsen, der in Hunderte Stücke zerschlagen wurde.

Aber jetzt ist, wie von mir festgestellt, Mittwoch. Und ich habe diese E-Mail immer noch nicht geöffnet.

Verfallen in altbekannte Muster

Ich kenne das. Den Aufstieg und dem darauffolgenden Abstieg.

Es ist ein Muster im Kleinen, das ich im Großen kenne und annahm, es längst überwunden zu haben. Es scheint mutiert zu sein und hat sich einen anderen, neuen Weg über die Jahre gebahnt, weil ich nicht aufgepasst habe. Ich wähnte mich sicher. Wer rechnet schon mit einer Pandemie und Homeoffice… – oder liegt es einfach nur am Altwerden? Früher war ich nämlich jünger. Und Berater mit Aussicht auf Zukunft.

Krankheitszyklus eines Projektmitarbeiters

Als (externer) Berater wirst du blind gegen die eigene Ausbeutung bei der Arbeit, denn sie wird von Begriffen wie »motiviert«, »engagiert«, »Bonuszahlung« und dergleichen in die Irre geführt – und dem Drang, sich selbst zu beweisen. Diese Begriffe sind Auszeichnungen und wer nur zu regulären Arbeitszeiten arbeitet, hat das System nicht verstanden.

Während dieser Zeit nahm ich meinen Urlaub immer am Ende des Jahres. Das lag zumeist an der zeitkritischen Projektarbeit. Keine Zeit und kein Budget – also das Übliche. Das Jahresende war die Insel der Glücklichen. Ein Zufluchtsort. Und wie es so ist, wenn ich diesen Ort erreichte, dann war ich am Anfang meiner Beraterjahre ausgelaugt und fertig, als ich dort ankam.

Mein Körper und Geist schossen die überlastenden Prozesse in der Taskleiste ab und rapide fuhr der Ventilator meines Körpers seine Geschwindigkeit herunter und es trat eine wohltuende Stille ein.

Doch nachdem die Hektik und Überbetriebsamkeit verschwanden und Ruhe einkehrte, wurde das verursachte Chaos deutlich und mein Körper trat geschwind die Reparaturen an, die sich in Form einer Erkrankung bei mir zeigten.

Zu meiner Überraschung erfuhr ich von einigen meiner Beraterkolleg*innen, dass auch sie von diesem Zyklus unfreiwillig folgten. Manchmal machte ich sie erst darauf aufmerksam.

Die Häufigkeit und Regelmäßigkeit des Auftretens dieses weiterverbreiteten Phänomens beschäftigte mich. Ich suchte nach den Ursachen und fand eine plausible Erklärung, an der ich heute noch festhalte.

In Stressphasen schüttet der Körper Adrenalin aus, das den Körper gegen jede Schwäche stärkt. Im Urlaub jedoch, also in der Phase, wo die Anspannung und der Stress von einem abfallen, fährt der Körper das »schützende« Adrenalin wieder herunter. Und der Körper wird anfälliger für Erkrankungen, vor allem, wenn man zuvor an der Grenze des Möglichen gearbeitet hat. Es ist wie das Herauslassen von zu viel Luft aus einem zu stark aufgeblasenen Luftballon. Man liegt schlaff da und der Körper versucht, die nötige Menge Luft wieder hineinzupumpen.

Mit dem Wissen um diesen Mechanismus und einer sorgsamen Selbstbeobachtung gelang es mir, in den letzten Jahren nur ein einziges Mal während meines Urlaubs zu erkranken (gegen eine Blinddarmentzündung helfen keine vorbeugenden Maßnahmen (vielleicht eine bessere Ernährung, die hilf in sehr vielen Fällen)).

Mehrarbeit, Mehrgeld, Mehr, Mehr, Mehr ohne Mehrwert?

Ach ja, die E-Mail!

Ich schweife zu leicht ab. Bin unkonzentriert.

Meine Erkenntnis nach all den Jahren, der vielen Arbeit und der Erfahrung mit meinem Körper (ohne geht es ja bislang nicht), ist: Das Geld, das zu mehr verdienst, ist es im Vergleich zu deiner Gesundheit nicht wert. Es lohnt sich nicht, finde ich. Das klingt nach einer einfachen und banalen Erkenntnis. Von wegen! Jahrzehntelang denkst du, du musst viel arbeiten, viel verdienen, Karriere machen, dies und das dir anschaffen, bla, bla, bla (kurzer Einschub: du verdienst mehr, und was machst du? Du kaufst dir das gleiche nur in teurer, das nennt sich Upselling ;-))

Unter diesem Eindruck, antwortete ich auf die E-Mail, dass ich ganz zufrieden mit der aktuellen Wochenarbeitszeit sei und der Mehrverdienst durch eine Erhöhung mir keinen wirklichen Mehrwert böten (ich danke auch den Steuern an dieser Stelle, die mir bei meiner Entscheidungsfindung sofort helfen).

Eigentlich ist die Erklärung viel einfacher: Seitdem unsere 40-Stunden-Woche reduziert wurde, habe ich mehr Freizeit, die ich u.a. für Hobbies nutze wie Sport und Lesen. Darauf möchte ich nicht mehr verzichten. Mir geht es auch dadurch besser. Und ich verzichte in finanzieller Sicht auf kaum etwas. Wenn das mal nicht ein Luxus ist! Meine Eltern und viele anderen können das nicht…

Als ich nun endlich diese E-Mail lese, merke ich, dass sie gar nicht an mich gerichtet ist, sondern an die Ebene höher. Darin formuliert finde ich die Absage an die Erhöhung auf eine 40-Stunden-Woche und sehe, dass vier weitere Kollegen im Verteiler sind. Das klingt doch ein wenig zu negativ, denn es ist doch toll, so einen Arbeitgeber zu haben, der einem diese Möglichkeiten bietet!

Überrascht dadurch, dass ich nicht der einzige bin und vor allem, dass auch zwei Neueinstellungen darunter sind, bin ich endlich wach.

Meine Gedanken sind noch unsortiert.

Irgendwo in meinem Hinterkopf lauert der trostvolle Vorstellung, irgendwann meine Wochenarbeitszeit weiter zu reduzieren…