Berliner Strasse Bielefeld-Brackwede

Lass dich nicht anstecken

Das mit den Vorurteilen ist so eine Sache. Ich selbst habe keine, denn als Ausländer mit Migrationsvordergrund kann ich sie mir nicht leisten – wo kämen wir sonst hin.

So früh am Morgen sind die Fahrten viel entspannter. Normalerweise. Also fuhr ich viel zu früh am Morgen des Mittwochs dieser Woche zur Arbeit – genauer, zu meinem Kunden. Der Mittwoch, das ist der Tag in der Wochenmitte ab dem die Arbeitstage und Stunden abnehmen. Daher war ich fast schon gut gelaunt. Diese gute Laune verbarg sich jedoch tief in mir, sprich, sie schlummerte noch. Meinem Gesicht erging es nicht anders. Es wusste noch nichts von dieser bevorstehenden Laune und hätte es davon gewusst, wäre es trotzdem zu müde, irgendeine Form von Laune darzustellen.

In diesem Guten-Morgen-Gesicht starrten meine beiden Augen auf die Schnellstraße und folgten dem morgendlichen Spiel zwischen den Blättern der herumstehenden Bäume von Licht und Schatten auf dem Asphalt. Der Tag war also auch nicht so richtig wach.

Doch am Rande braute sich etwas zusammen. An der Peripherie meines Blickes weckte ein kleiner, weißer Wagen im Rückspiegel meine Aufmerksamkeit.

Fuhr sie zu schnell, zu dicht auf oder zu aggressiv? Nein, das war es nicht. Doch ihre Fahrweise wirkte eigenartig. Ohne mir dessen bewusst zu sein, hatte ich eine Frau hinter dem Steuer erkannt. Ich schaute genauer hin und sah sie motzen. Sie schien richtig sauer zu sein. Ich konnte deutlich sehen, wie sie ihren Mund auseinander riss, während sie wütend ihren Kopf hin und her schmiss.

Was ist denn mit ihr los? War sie am Telefonieren? Und dann sah ich ihre Arme hochschnellen, um sofort wieder abzutauchen, als prügelte sie auf etwas Imaginäres ein.

War ich gemeint? Nein, das konnte nicht sein. Ihr Kopf war gesenkt. Sie fluchte in ihr Lenkrad. Es hätte mich nicht gewundert, hätte sie hineingebissen. Hinter mir fährt eine Psychopathin!

Mein Gesicht war in der Zwischenzeit aufgewacht, zog irritierte Falten und versuchte damit, meine Gedanken so zu quetschen, dass irgendeine vernünftige Erklärung für diese Frau im Rückspiegel daraus hervor quoll. Dabei kam leider nichts heraus. Ich fuhr zügig weiter, um mich aus ihrer Gefahrenzone zu bewegen, denn wer wusste schon, ob ich nicht plötzlich das Ziel ihrer Aggression werden würde.

Wieso war sie nur so sauer? Hatte sie sich verspätet? Dann müsste sie doch schneller fahren und es eiliger haben.

Ich blickte nach vorn. Dann tauchte eine rote Ampel vor mir auf.

Ich blieb stehen und schaute wieder in den Rückspiegel. Etwas neugierig war ich schon.

Sie fuhr nach links auf die Abbiegespur. Das erleichterte mich ein wenig, man weiß ja nie.

Nun stand sie direkt neben mir. Ich schaute zu ihr rüber. Sie jedoch würdigte mich keines Blickes. Aha, dachte ich mir, sie ist nicht sauer auf mich, wieso auch!

Die Ampel schaltete auf grün, und ich gab Gas.

Kaum eine Sekunde später hörte ich ein wildes Hupen von links. Ich schaute rüber und sah, wie dieser kleine Wagen versuchte, mich vergeblich zu überholen – was, nebenbei bemerkt, völlig bescheuert war. Denn sie befand sich nicht einmal auf halber Höhe, während sich die Distanz zwischen uns rapide vergrößerte. Ebenso gut hätte sie versuchen können, mich mit einem Mofa zu überholen.

Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich verstand sie nicht. Wieso wollte sie mich überholen? Ich meine, ich fuhr zügig im Rahmen des Zulässigen.

Wieder schaute ich in den Rückspiegel. Diese Situation wirkte ein wenig verstörend auf mich. Was ihre Beschleunigung betraf, war ihr Wagen so weit von meinem entfernt, dass sich problemlos ein anderes Auto dazwischen quetschte. Auch vor mir tauchte ein Auto auf. Auch gut.

Wieder kam ich an einer Ampel vorbei. Mein Vordermann/-frau und ich bremsten ab. Doch bevor wir zum Stehen kamen, schaltete die Ampel auf Grün und wieder sprang dieses kleine Auto auf die linke Spur, um dann ungebremst an uns »vorbeizuziehen«.

Der Fahrer vor mir war ein bisschen langsam und musste dennoch leicht abbremsen, damit sich ihr Auto noch vor ihm einscheren konnte.

Sie fuhr jetzt alleine an der Spitze. Gespannt verfolgte ich ihre Fahrt. Was wird sie machen? Würde sie jetzt »davonziehen«?

Nein, sie schaffte es nicht, schneller als das Auto hinter ihr zu fahren oder irgendein Auto dahinter. Was sollte dieser Quatsch am Morgen?!

Wenige Minuten später kamen wir erneut an eine Kreuzung. Sie wechselte wieder auf die linke Spur. Aber wieso? Bekanntlich sind aller guten Dinge drei, was hier überhaupt keinen Sinn ergab. Eher, drei sind einer zu viel.

Doch diesmal bog sie tatsächlich ab. Damit hätte nun wirklich niemand rechnen können! Ich blickte ihr nach. So viel unnötige Verärgerung – wozu der Lärm?

Als Kind machten mir solche Menschen mit ihren plötzlichen Anfeindungen Angst. Ich hatte ihnen nichts getan und kannte sie nicht einmal und sie mich ebenso wenig. Ich fürchtete, sie würden mich, und wenn ich nicht alleine war, meine Eltern oder Geschwister, attackieren, beschimpfen, um uns grundlos weh zu tun. Als Kind fragte ich mich, woher diese Anfeindung kam, der aus ihnen wie Kotze herausschwappte. Ich versuchte sie zu verstehen und ihnen keine Gründe zu liefern. Es war vergebene Liebesmüh, denn nicht ich war das Problem, daher hätte ich mich so viel ich wollte ändern können.

Aber diese Zeiten waren vorüber. Jetzt begann ich sauer zu werden. Ihre Probleme, ihr Frust oder was immer es auch war, sollte sie nicht an mir oder anderen auslassen! Uns damit anstecken und vergiften! Für einen kurzen Moment flackerten die Gedanken auf, ihr nachzufahren und sie zur Rede zur stellen oder wegen Nötigung anzuzeigen oder beides.

Nein, sagte ich mir, dann würde ich ihr einen Grund für ihre Verärgerung liefern und sie in ihrem Verhalten bestätigen. Das würde sie von ihrem Versäumnis bereitwillig ablenken. Denn es war schon immer so leicht, anderen die Verantwortung und die Schuld für eigene Verfehlungen oder Fehler zu geben.

Und vielleicht, sagte ich leise zu mir, erzählt sie völlig aufgelöst auf der Arbeit, ein aggressiver Ausländer hätte sie verfolgt, daher hätte sie sich verspätet und wäre auch nicht in der Verfassung, jetzt zu arbeiten.

Mein Mund verzog sich zu einem bitteren Lächeln und schüttelte meinen Kopf. Das klang so weit hergeholt, dass es tatsächlich hätte passiert sein können.