Buch: Lucia Berlin – Was ich sonst noch verpasst habe

»Ich arbeite gerne in der Notaufnahme – jedenfalls lernt man dort Männer kennen.«

Buch Lucia Berlin - Was ich sonst noch verpasst habe
Lucia Berlin – Was ich sonst noch verpasst habe (Amazon Werbelink)

Ich las den Einstiegssatz und musste sofort lachen. Es stammt von der Geschichte »Mein Jockey« aus Lucia Berlins Buch »Was ich sonst noch verpasst habe« (Amazon Werbelink).

Ich fand ihn aktuell, bissig, vielleicht sogar sarkastisch. Zudem steckte in ihm der Charme, mit den Gegebenheiten des Lebens pragmatisch und humorvoll umzugehen. Und vielleicht versteckte sich noch etwas Verzweiflung zwischen den Worten. In allem war der Satz geistreich, ehrlich und direkt, ohne Allüren. Er hätte sich auf Twitter bestimmt großartig gemacht.

Mein Lachen hatte mich kurzweilig vom Text ablenkt, aber es reichte, um in mir das Gefühl zu wecken, das in dem Satz etwas viel Tiefergehendes, Grundlegendes steckt.

Vielleicht versuchte ich zu ergründen, warum ich den Einstieg so lustig fand. Und dann ganz plötzlich tauchte diese Frage vor meinen Augen auf: Was für Männer lernt eine Frau in der Notaufnahme kennen?

Kranke und kaputte! Aber das fand ich zu plump und zu klischeehaft. Zumindest sind es Männer, die dringend Hilfe brauchen. Sie schreibt von »echte(n) Männern, Helden. Feuermänner(n) und Jockeys«. Genau, Jockeys! Wer denkt nicht sofort bei Helden und echten Männern an die kleinen Jockeys.

Dann las ich weiter, von »wundervollen Röntgenaufnahmen«, von dauernd brechenden Knochen oder von Skeletten, die Bäumen gleichen »wie rekonstruierte Brontosaurier«. Ihre Bilder sind voller Poesie. Noch nie las ich etwas Schöneres über gebrochene Knochen!

Und doch geht es um einen Mann – den Jockey –, der innerlich verletzt ist. Und wer in diesen Menschen hineinschaut, scheint sie zu sagen, wird dort etwas Gebrochenes und zugleich ein Wunder entdecken. War das eine Metapher auf das Leben oder nur auf die Männer in ihrem Leben? Waren wir Erwachsene gebrechliche Wesen, die dies nur in hilflosen Momenten zeigen (dürfen) und sonst nach außen immer stark wirken (müssen)?

Vielleicht.

Vielleicht waren wir in jenen Momenten schutzlos wie Kinder und auf Menschen angewiesen, die sich selbstlos unserer annahmen.

Wer weiß.

Was war mit mir? Unweigerlich bezog ich meine Fragen auf mich und mein Leben. Wie viele Menschen waren in meinem Leben »beschädigt«? (Denke jetzt nicht an bestimmte Ex-Freundinnen, denke jetzt nicht…) Hatte ich den Frauen in meinem Leben Schaden hinzugefügt oder war es umgekehrt?

Allmählich begann ich meinen Blick vom »kranken« Mann auf die Frau zu lenken. Die Frau in der Geschichte ist Krankenschwester. Wie passend. Sie kümmert sich bedingungslos um diese Männer – oder gar um deren Seelenheil? Sofort drängte sich mir das Bild Søren Kierkegaards von der Frau als Krankenschwester der männlichen Seele auf. (Vielleicht bin ich ein wenig krank im Kopf.)

Indes trägt die Ich-Erzählerin den Jockey auf ihren Armen zur Röntgenaufnahme, und der Jockey, »die Miniatur eines Aztekengottes«, verwandelt sich auf dem Weg dorthin vom märchenhaft verzauberten Prinzen immer mehr zu einem Baby.

Und dann noch so eine Frage in meinem Kopf, als hätte ich meinen sentimentalen Moment. Tragen wir nicht alle Verletzungen aus der Vergangenheit in uns oder vor uns her und hoffen, nicht mehr verletzt zu werden oder hoffen gar auf einen Menschen zu treffen, der uns für einen Moment trägt, während unsere alten Wunden verheilen?

Vielleicht.

Es war sehr lustig, diese Verwandlung Satz für Satz zu lesen. Und bestimmt dürften einige Frauen beim Lesen an ihren eigenen (Azteken-)Schatz zu Hause denken. Ihr Held, der sich mehr und mehr über die Jahre in ein hilfloses Kind verwandelte. Statt, dass er sie auf Händen trug, lag die ganze Last der Beziehung auf ihr. (Was für eine gemeine Unterstellung von mir!)

Wer weiß.

Zumindest scheinen Männer ihre sensibelsten Momente dann zu haben, wenn sie krank werden. Während Frauen zum Beispiel eine einfache Erkältung bekommen, erliegen Männer der tödlichen Variante: der Männergrippe (mehr dazu auf Twitter).

Auch die anderen Geschichten in »Was ich sonst noch verpasst habe« sind ebenso humorvoll und hintersinnig geschrieben. Und ebenso handeln sie – meinem Eindruck nach – von Menschen, die alle an irgendeiner Stelle gebrochen zu sein scheinen. Sie leiden alle. Für sich. Auf ihre Weise. Miteinander. Oder auch durch ihre unmittelbaren Mitmenschen, die die engsten Verwandten und zu gleich größter Feind sein können.

Aber alle, ohne groß zu jammern. Lucia Berlin schreibt nicht voller Selbstmitleid oder sentimental, sondern mit einer Leichtigkeit, als wollte sie der Schwere des Lebens etwas entgegen setzen und uns, dem Leser, die Last abnehmen.

Ihr Buch ist voller raffinierter, tiefgründiger Geschichten, die trotz aller Brutalität und Härte so leicht und fesselnd sind, dass sie mich immer wieder zum Schmunzeln gebracht haben und ich immer wieder darin lese und lesen werde, um selbst mein Leben ein wenig leichter zu nehmen und mit Humor zu (er-)tragen als sei es ein wertvoller Aztekengott…

Quellen & Links

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Lucia Berlin – Was ich sonst noch verpasst habe: Stories


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