„Es gibt keine unattraktiven Frauen, nur schlecht geschminkte“


Ich schaute mir den Stapel Frauenfotos an, die mir der Bielefelder Starfriseur Michael Rosinski (er war der Udo Walz seiner Zeit) in die Hand drückte. Vereinzelt irritierende Bilder von werbeungeeigneten Gesichtern tauchten blass und dennoch aufmerksamkeitserregend zwischen Hochglanz-Schönheiten auf. Sollte ich sie per Photoshop korrigieren?

Als hätte er meine Frage gehört, sagte er, dass es bei den Fotos nicht um Frisuren ginge, sondern um das Make-Up. Jeweils zwei Fotos von einer Frau: vorher und nachher – ungeschminkt und geschminkt. Zwei Welten eines Gesichts, vereint auf einem Werbeflyer für seine Friseurläden in Bielefeld und Berlin.

Verblüfft und etwas ratlos schaute ich mir wieder die Bilder an. Diesmal jedoch als Paar. Eine lächelnde, junge Frau. Kleine rötliche Pickel sammelten sich auf ihrer Stirn, links auf ihrer Oberlippe und unten rechts am Kinn. Dunkelbraune Schatten zeichneten totenähnliche Löcher um ihre matten Augen. Ihre Stirn glänzte vom Fett in einem ungesunden Gelb und rötliche Flecken verteilten sich um Wangen, Nase und Mundbereich. Die Haare waren nach oben gebunden, um auch ja keinem Teil ihres Gesichts ein Versteck zu bieten.

Und das andere Foto? Eine wunderschöne Frau mit funkelnden Augen blickte den Betrachter forsch und herausfordernd an und jeder Mann, der eben noch ein müdes Lächeln übrig gehabt hätte, wechselte unwillkürlich in einen anderen Zustand. Die Haare bildeten einen kunstvollen Rahmen um ein Meisterwerk.

„Ist das wirklich die gleiche Frau?“ Ich vermutete hier eine List, einen Betrug, etwas a la Photoshop.

„Ja“, sagte er lächelnd und zufrieden mit seiner Arbeit. Dann beugte er sich etwas vor, als wolle er ein Geheimnis mit mir teilen. Er begann in einem väterlichen Ton zu sprechen. „Es gibt keine unattraktiven Frauen, nur schlecht geschminkte.“ Mit einem Lachen ging er und ließ mich mit den Fotos alleine.

Versuchte er mich auf den Arm zu nehmen oder war das sein Ernst? War das eine gute Nachricht für alle Frauen da draußen oder eine Warnung an mich?

Ich saß noch eine ganze Weile mit den Bildern in der Hand. Noch immer verwirrt und ratlos. In meinem Kopf arbeitete etwas. Ich schaute die Bilder immer wieder an, als suchte ich nach einer Wahrheit oder einer Antwort. Vielleicht nach etwas, was seine Aussage widerlegte. Doch es gab kein einziges Nachherbilder, das mir nicht gefiel. Nur bei den Vorherbildern hatte ich meine Schwierigkeiten. Die Bilder und die Frauen blieben mir ein Rätsel. Wären die Bilder nicht bereits geordnet, dann wäre ich aufgeschmissen. Also, bloß nicht die Bilder durcheinander bringen! Ein kurzer Schreck und das Gefühl, hier lag etwas mit Bedeutung für mein Leben verborgen. Damals stand mir noch eine Erfahrung bevor, die mein neu erworbenes Wissen einem Praxistest unterziehen sollte.

Corinna fiel mir in der Disco auf. Ein katzenartiges Wesen mit durchdringendem Blick schaute mich durch ein Gemisch aus Nebel und flackerndem Licht an, und ihre Augen verengten sich zu Schlitzen, die feurig zu Funkeln begannen. Ich hätte schwören könnten, sie hätte am liebsten ihre Krallen ausgefahren und mein Gesicht zerkratzt. Später wurde mir klar, sie hatte ihre Beute entdeckt.

Gegen sechs Uhr morgens saßen wir bei ihr zu Hause. Mein Körper kämpfte gegen zwei gegensätzliche Empfindungen: Erregung und Ermüdung. Und desto länger wir quatschten und nicht zur Sache kamen, desto schwerer lastete die Müdigkeit auf mir.

„Du“, sagte ich in einem freundlichen Ton, „ich bin müde und fahre jetzt heim.“
„Warte, ich ziehe mich kurz um.“ Sie sprang auf und war verschwunden. Aha, so einfach geht das also.

Die kurze Freude und Erregung kostete mich meine letzte Energie und meine Fantasie hatte keine Kraft mehr, sich das bevorstehende auszumalen, und so völlig ohne visuellem Anreiz verführte mich dieses kuschelige Sofa sanft ins Land der Träume.

Ich schreckte auf. Eine Frau hatte den Raum betreten. In Jogginghose und mit Mondgesicht. Von einer Mitbewohnerin hatte Corinna nicht gesprochen und irgendwie kam mir diese Frau bekannt vor. Plötzlich wurde ich hellwach und durch die Bahnen meines Gehirns schossen chaotische Eindrücke und Gedanken, die mehr irritierten als halfen. Ich riss mich zusammen und konzentrierte mich auf die deduktive Methode von Sherlock Holmes, dem logischen Schließen.

Sie sagte, sie sei alleine hier und ihre Eltern wären im Urlaub. Weiterhin war sie eben weggegangen, um sich vermutlich umzuziehen. Das erklärte die Jogginghose. Wenn sie schon dabei war, hat sie sich vermutlich auch abgeschminkt, daher wirkte ihr Gesicht zuerst wie ein Mondgesicht auf mich. Sie kam mir bekannt vor, weil sie ihre Haare so gelassen hatte, ihre Figur die gleiche war und dann diese Augen unverändert blieben. Daher schloss ich: Sie war es!

Als mein aufgeschreckter Moment abklang, war ich froh zu sehen, dass sie mir weiterhin gefiel. Glück gehabt! Doch für das nächste Mal nahm ich mir vor, genauer hinzuschauen. Würde sie dir auch ohne Schminke gefallen? Ich sollte aufpassen, dass ich hier nicht zu reduktionistisch wurde, denn das ungeschminkte Gesicht hat seine ganz eigene Wirkung, wenn auch ihr Körper in natürlicher Schönheit vor dir lag.

Was den Flyer betraf: Ich beschloss, dem Betrachter ein Rätsel aufzugeben. Ihnen sollte es wie mir ergehen. Ich positionierte die Nachherbilder in einer Reihe oben auf dem Flyer und die Vorherbilder unten. Den Betrachter forderte ich dazu auf, den Nachherbildern die Vorherbilder zuzuordnen. Und obwohl ich diese Fotos selbst auf dem Blatt arrangiert hatte, war es mir nach wenigen Tagen nicht mehr möglich, sie korrekt einander zuzuordnen.

Übrigens ging es mit ihr so weiter

photo credit: screenshot of melissa makeup’s instagram page


Quellen & Links

  • Instagram Seite von Melissa Makeup
    URL: http://instagram.com/xmelissamakeupx, Stand 07.12.14Als ich noch als Student Fotos bearbeitet hatte, gab es noch keine Sozialen Medien. Aber damit Ihr euch ein eigenes Bild davon machen könnt, findet Ihr bei Melissas Makeup eine Reihe von überraschenden Vorher- und Nachherbilder. Viel Spass beim Entdecken…
  • ufunk.net: „29 actrices porno avant et après maquillage”
    URL: http://www.ufunk.net/insolite/avant-apres-maquillage/, Stand 07.12.14Auf die Seite von Melisa Makeup bin ich über den Artikel auf ufunk.net gestoßen, die mich dann an die Episode mit Michael Rosinski erinnerte.

2 Antworten zu “„Es gibt keine unattraktiven Frauen, nur schlecht geschminkte“”

  1. Da ich selber auch hobbymäßig fotografiere, habe ich mich zwangsweise auch viel mit Make-Up auseinandergesetzt – und selbst ich kann mit einer Palette Eye-Shadow einiges anfangen. Hierbei geht es nicht nur um die Augen sondern durch die Farben die Modellierung des Gesichts. Manchmal finde ich es erschütternd, wie man den grundlegenden Charakter eines Gesichts ändern kann. Manchmal ist es reizvoll, z.B. wenn ich verschiedene Persönlichkeiten nachahmen will. Was ich traurig finde, ist, wenn Frauen sich jeden Tag eine Maske auflegen. Wenn ich eine Freundin ungeschminkt sehe, will ich mir nicht “Oh mein Gott” denken, sondern wenn sie geschminkt ist, fragen: “Na, was hast du heute vor?”. So wird Schminke zu einem positiven Erlebnis, und nicht zu einem negativen.

    • Hallo Katharina,

      ich sehe das genauso. Ich finde im privaten Umfeld dezent-geschminkt ganz gut. Ich möchte das Gesicht und Charakterzüge des Menschen erkennen können und keine Überraschungen erleben.

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