Junge mit Hund (von pixabay)

»Ich kann nicht allein sein.«

Mein Kumpel wirkte genervt und dennoch ließ ich nicht locker. Mich interessierte die Geschichte dieser Frau (ja, sie war attraktiv), die sich ständig über ihren neuen Freund beschwerte, das sich zu einem Meckern gesteigert hatte. Ich wollte verstehen, warum sie das tat.

Widerwillig begann er zu erzählten. Ihr Freund enge sie ein, er sei nicht selbstständig, er sei sehr eifersüchtig, kontrolliere sie, sei egoistisch, helfe nicht im Haushalt etc.

Machte er wirklich alles falsch oder war sie nur eine Meckerziege?

Ich wusste nicht, ob sie sich zu recht über ihn beschwerte. Zu viele Personen waren an der stillen Post beteiligt und nur durch das Genervt sein miteinander verbunden, und jetzt war ich ein Teil dieser Kette und verbreitete ihre Geschichte auf meine Weise.

Die Geschichte der anderen

Mein Kumpel durfte sich ihre Geschichte immer wieder in allen erdenklichen Variationen von seiner Freundin anhören, weil sie wiederum genervt von ihrer Fitnessbekanntschaft war, die sich neuerdings regelmäßig wegen eben dieser Freundin bei ihr auskotzte, denn das ständige Meckern ginge ihr allmählich auf die Nerven wie ein ungewollter Ohrwurm in Dauerschleife.

Erschreckend, dachte ich mir, wie viel ich als unbeteiligter Mensch über andere Menschen erfuhr, während der Betroffene selbst vermutlich im Dunkeln tappte. So war es aber häufig. Man selbst erfuhr die unangenehmsten Angelegenheiten in der eigenen Beziehung als letzter. Die nackte Wahrheit, so schien es, erzählte man viel einfacher anderen in Form von Klagen und erntete als inszeniertes Opfer meistens Verständnis und Verbündete.

Vielleicht war sich ihr Freund dessen halb bewusst und nutzte seinerseits ihre Schwäche (was immer das auch war), um seine eigene auszugleichen – bestimmte Beziehungen funktionierten bekanntlich am besten mit dem Partner, der die eigenen Macken ideal ergänzte oder nicht störte.

Warum machte sie nicht Schluss?

Doch nichts von meinen abschweifenden Gedanken war relevant und brachte mich einer Antwort auf meine Frage des Warums näher. Ich wurde ungeduldig.

»Moment«, stoppte ich mich, während ich meine Gedanken zu sortieren versuchte – ohne diese Frau zu kennen, war ich bereits genervt von ihr. »Warum macht sie dann nicht mit ihm Schluss?!«

Ich wartete auf die beliebte Standardantwort, hinter der sich jeder so leicht und bequem verstecken konnte, weil niemand sie hinterfragte: Aber ich liebe ihn!

Blub, blub, …

»Sie sagt, sie kann nicht allein sein.«

Blub! Meine imaginäre Blase platzte. Ich hatte sie wunderbar aufgefüllt mit vorgefertigten Urteilen, die schön in Schubladen vorsortiert waren.

Große Flächen des Alleinseins

Menschen, die nicht alleine sein können, waren mir suspekt, vor allem die Menschen, die eine Beziehung führten, um dem Alleinsein zu entkommen. Wie konnten sie mit jemand anderem zusammen sein, wenn sie nicht mit sich selbst sein konnten?

Für mich war das überhaupt nicht nachvollziehbar. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es Menschen gab, die nicht alleine sein konnten.

Ich war gerne alleine, genoss die Zeit. Und wann immer ich in einer Beziehung war, kam irgendwann für mich die Zeit, wo ich nach der schönen Zweisamkeit, wieder Zeit für mich brauchte. Für mich gehörte Zeit und zeitweiliger Abstand zur Nähe dazu.

Und blieb ich allzu lange fern von meinen Büchern, meinen Gedanken, meinem Schreiben – von mir, nahm »meine Frustration zuweilen beinahe panische oder aggressive Formen an«, so wie Karl Ove Knausgård in seinem Buch Sterben es so wunderbar beschrieb. »Es war mir immer schon sehr wichtig, für mich zu sein, ich benötige große Flächen des Alleinseins […]«

Aber eine Beziehung deswegen einzugehen? Das fand ich feige, schäbig und gegenüber dem Partner unehrlich, denn dieser war nur Mittel zum Zweck. Austauschbar. Ebenso gut hätte es ein(e) andere(r) getan.

Vielleicht war ich unfair und zu hart in meinem Urteil, weil mich das Leben auf die Seite des anderen Extrems geworfen hatte. Doch sagte mir mein Gefühl, dass diese Menschen das Alleinsein mit Einsamkeit verwechselten und dass sie auf der Flucht vor etwas waren, dem sie sich nicht stellen wollten und dass sie wieder in den Momenten des Alleinseins aufsuchte und sie quälte, wie Gedanken, die nachts auftauchten, wenn die Welt um einen herum begann, leise zu werden.

Die Illusion von Kontrolle und andere Plagen

Ihr andauerndes Meckern – war das ihre Art, ihr eigenes Leid besser zu ertragen und Herr der Situation zu werden, nicht die Kontrolle darüber oder über ihn zu verlieren? Eine Kontrolle der Nähe, vermutlich, um ihm nicht allzu nahe zu kommen. Hatte sie in ihrer letzten oder bisherigen Beziehung eine so schmerzhafte Erfahrung gemacht, die sie nie wieder erleben wollte?

Was plagte sie, dass sie das Alleinsein nicht (länger) ertrug? Waren es Kindheitserlebnisse oder eine spätere Beziehung oder beides, weil sie immer das gleiche Muster in ihren Beziehungen wiederholte?

Was immer es auch war, sie brauchte einen wie ihn, der ihr ständig mit Nähe drohte und damit seine Abhängigkeit von ihr zeigte. Jemand wie er konnte ihr nie gefährlich nahe kommen, sie nicht plötzlich verlassen. Und wenn doch, wusste sie, dass er nicht der Richtige war.

Jemanden wie ihn konnte sie kontrollieren und emotional auf dem richtigen Abstand halten. Aber es ging nicht um ihn, sondern um sie selbst: Durch ihn konnte sie ihr eigenes Leben unter Kontrolle halten. Also würde sie sich nie zu einem Mann emotional hinreißen lassen, der ihr den Boden unter ihren Füßen wegziehen könnte. Sie würde immer wieder den gleichen Typ Mann auswählen und niemals aufhören, sich über ihn zu beschweren.

Auch wenn sie die Kontrolle in der Beziehung zu haben schien, einst würde sie nicht machen, mit ihm Schluss. Das würde bedeuten, wieder alleine zu sein und sich einsam zu fühlen. Vielleicht klammerte sie sich an die Beziehung, aber nicht an ihn.

Auf dünnem Eis

Ich schüttelte meinen Kopf. Nicht über sie, sondern über mich. Alles, was ich mir da zusammensponn, war höchst spekulativ, und ich bewegte mich auf sehr dünnem Eis, drohte, in meine eigenen Abgründe abzugleichen.

Warum schaffte sie sich kein Haustier an, einen Hund oder Katzen?

Als hätte mein Kumpel meine Frage verstanden, sagte er: »Sie ist schwanger.«

photo by pixabay


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