Schnecke Langsamkeit Zeit lassen

Wie ich durch Langsamkeit unerwartet mehr Zeit gewann

Schneller, immer schneller. In atemberaubender Geschwindigkeit schoss ich die Kasseler Berge steil hinauf und hinunter durch die Kurven wie ein Wagen in der Achterbahn. Ich raste so schnell, dass sich mein Hintern vom Sitz löste und ich für eine Sekunde in der Luft schwebte, als mein Auto ins Gefälle hinabfuhr.

Ich fuhr immer am Äußersten, an der Grenze des Erlaubten und Körperlichen. Immer im Wettlauf mit der Zeit. Ich fuhr, als wäre ich einer der Bauern aus alten Gruselfilmen, der auf der Flucht vor blutsaugenden Untoten war und vor Sonnenuntergang zu Hause sein musste – bis etwas passierte.

Bielefeld – München – Bielefeld

Knapp drei Jahre arbeitete ich als IT-Berater für einen Kunden in der Nähe von München. Ein Jahr davon fuhr ich jede Woche Montag von Bielefeld dorthin und Donnerstag wieder nach Hause (Fliegen änderte auch nichts).

Eine 1.200 Kilometer lange Strecke, größtenteils auf der Autobahn.

Verleibte mir wütend Kilometer um Kilometer ein, bis ich vom Asphalt angefressen war.

Ich kämpfte auf der Autobahn um jeden Meter und um jede Sekunde, als ob es wirklich etwas zu gewinnen gab. Begann unbewusst mit den anderen Fahrern zu konkurrieren und ein Rennen gegen sie, die Zeit und letztlich gegen mich selbst zu fahren.

Ich schimpfte, wenn einer nicht rechtzeitig die Spur wechselte und mich abbremste. Schimpfte, wenn einer zu dicht bei mir auffuhr und mich zu einem Spurwechsel nötigte.

Ich schimpfte, weil die Staus und Baustellen mich immer irgendwann erwischten und die aufgeholte Zeit erbarmungslos wegfraßen.

Und dann ärgerte ich mich über die Radiosendungen, die bei einer mehrstündigen Fahrt schlimmer als jede Wiederholung im Fernsehen waren.

Was ist nur los mit mir?

In dem Moment, in dem ich ins Auto stieg und losfuhr, schaltete ich automatisch in einen anderen Modus um. Eine Art Autopilot oder verengter Blick, dessen Ziel die schnellstmögliche Überwindung dieser Mamut-Strecke war, um so schnell wie möglich Zuhause zu sein.

Doch Zuhause angekommen, war ich körperlich und psychisch völlig ausgelaugt, als hätte mich ein Vampir blutleer gesaugt. Manchmal zitterten meine Arme wegen der Daueranspannung am Lenkrad.

Ich brauchte fast eine Stunde, um mich davon zu erholen und meinen Kopf frei zu bekommen.

Und jedes Mal fragte ich mich, warum ich das tat. Ärgerte mich über so viele Stunden, die ich im Auto verbracht hatte, ohne etwas Sinnvolles zu tun. Was für eine Zeitverschwendung! Ich begann die Autofahrten zu hassen.

Trotzdem wiederholte ich alles bei der nächsten Fahrt – bis etwas Unerwartetes passierte.

Ausgebremst und eine Veränderung im Kopf

Manchmal muss man zu seinem Glück getreten werden! Bei mir trat diese Form der Veränderung durch einen unerwarteten Wagentausch in meine Routine: Ich bekam für eine Woche einen Mercedes-Benz A-Klasse.

Im Vergleich zu meinen vorherigen Autos war dieser Wagen wie eine Schnecke mit angehängtem Wohnwagen.

Ich trat das Gaspedal bis zum Asphalt durch. Der Wagen schaffte mit einem optimalen Vorlauf von 30 Minuten und einem Gefälle von 45% mit Rückenwind und Vollmond und der richtigen Erdrotation eine Wahnsinnsgeschwindigkeit von 120 – 125 km/h!

Nach mehreren gescheiterten Versuchen, auf die linke Spur für einen Überholvorgang zu wechseln, ergab ich mich meinem Schicksal und tuckerte in der mittleren Spur auf der Jagd nach sichtversperrenden LKWs, die sich ein Elefantenrennen lieferten.

Alles andere machte keinen Sinn.

Zuhause angekommen schaute ich auf die Uhr. Ich musste meine Fahrzeiten für meine Spesen erfassen.

Aber da stimmte etwas nicht oder konnte nicht stimmen! Ich hatte mit dem langsamsten Auto der Welt keine 15 Minuten länger gebraucht!

Und zu meiner Überraschung war ich auch noch trotz der langen Fahrt völlig entspannt.

Ich war so perplex, dass dieses Erlebnis etwas in meinem Kopf nachdrücklich veränderte und ich mir eine Reihe von Fragen stellte.

Obwohl ich wesentlich langsamer gefahren war, kam ich nicht unwesentlich später an. Umgekehrt: Ich gewann kaum Zeit durch Geschwindigkeit, denn die Staus und Baustellen erlaubten nur kurzfristig ein Tempo bis zu 220 km/h, die über die lange Strecke nahezu verpuffte. Und schlug ich etwas Zeit heraus, bezahlte ich Zuhause mit längeren Erholungszeiten.

Was mich allerdings ärgerte, war, all das war mir auch zuvor bewusst und doch musste etwas von außen passieren, damit ich begriff. Ich musste aktiv etwas tun!

Rote-Königinnen-Hypothese

Stress. Hektik. Alles muss immer schneller werden. Auf der Arbeit, in der Freizeit – im Leben.

Wer stehen bleibt, wird abgehängt, also renne so schnell du kannst!

Die Rote Königin aus Lewis Carolls »Alice hinter den Spiegeln« beschreibt das sehr treffend, indem sie sagt:

»Hierzulande musst Du so schnell rennen, wie Du kannst, wenn du am gleichen Fleck bleiben willst.«

Nach ihr wurde auch die Rote-Königinnen-Hypothese benannt, in dem es vereinfacht gesagt um Wettlauf geht.

Was ich an mir veränderte

Ich wollte nicht immer schneller rennen, das war nicht mein Ziel. Mein Ziel war es, früher zu Hause anzukommen. Früher Zuhause zu sein, bedeutete, mehr Zeit für etwas Sinnvolles zu haben. Aber die Zeit auf der Autobahn konnte ich nicht wirklich verkürzen, auch ein Flug änderte nicht viel daran.

?
Keep
Calm
and
drive
slow

Daher begann ich auf meinen Fahrten, Hörbücher, Vorlesungen und Podcasts zu hören, die u.a. zu Artikeln auf meinem Blog führten (hier zum Beispiel angeregt durch eine Psychologie-Vorlesung: Warum Frauen uns Männer ändern wollen).

Das reichte mir nicht. Um mehr Zeit zu gewinnen, schaute ich kaum noch Fernsehen und las Bücher stattdessen. Aber ich wollte und will nicht gänzlich auf bestimmte Filme, Sendungen und vor allem nicht Serien verzichten. Daher kombiniere ich das Fernsehen mit Sport.

Ich kaufte mir ein Trimmrad, ein ziemlich langweiliges Gerät. Doch als ich »The Walking Dead« zu schauen begann, musste ich mich nach zwei Stunden auf dem Trimmrad zum Aufhören zwingen.

So einfach geht es.

Manchmal kämpfen wir völlig unnötig gegen die Zeit oder andere Hindernisse. Und manchmal sollte man sich ausbremsen und sogar eine Pause nehmen, um wirklich voranzukommen.

Inspiriert durch…

Buch: Tool der Titanen von Tim Ferris
(Amazon Werbelink)

…das Buch »Tools der Titanen: Die Taktiken, Routinen und Gewohnheiten der Weltklasse-Performer, Ikonen und Milliardäre« (Amazon Werbelink) von Tim Ferriss.

Dort las ich die Anekdote »NIMM DIR 45 MINUTEN STATT 43 – UND SCHON GEHT ES VIEL LEICHTER« über Derek Sivers, die mich an meine Raserei erinnerte.

Was das Buch betrifft, bin ich im Moment unschlüssig. Der Titel ist ein wenig zu reißerisch, trifft es aber ganz gut. Im Buch geht um Menschen, die Höchstleistungen erbracht haben und was Tim Ferriss von ihnen gelernt hat und damit, was der Leser lernen kann. Einige der Geschichten sind mir zu einfach mit ihrer Botschaft, andere gefallen mir…

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