Ein Moment der Schwäche

Du denkst,
du kennst
diesen Menschen.

In einem Augenblick verändert sich dein Blick.
In einem unscheinbaren Moment erkennst du
dein eigenes Kratzen an der Oberfläche
und wie leichtfertig du dich damit hast abspeisen lassen.

Etwas Bange, sagte Jennifer am Telefon, würden ihr lange Fahrten schon machen. Ich beschrieb ihr genau den Weg nach Bielefeld, obwohl sie diesen bereits kannte. Alleine traute sie sich aber nicht. Die meiste Zeit verbrachten wir bei ihr in einer sehr kleinen Stadt. Dort fühlte sie sich wohl. Alle anderen Städte waren für sie zu groß und unübersichtlich. Dort käme sie sich etwas verloren vor. Ich sei da, munterte ich sie auf, und würde mit ihr gemeinsam die Fachhochschule anschauen. Sie fasste Mut und fuhr am Morgen los. Es sollte ein Aufbruch in ein neues Leben werden.

Als sie unversehrt ankam, stürmte sie aus dem Auto und begann aufgeregt über ihre Autofahrt zu berichten. Sie hielt die Hand an die Stirn, um ihre Augen zu schützen. Die Sonne schien ruhig und warm. Warf einen Schatten auf ihr Gesicht. Ich konnte Funkeln darin sehen. Sie warf ihren Kopf zur Seite und lächelte verlegen. Der ganze Rummel war ihr dann doch ein wenig peinlich.

Ab jetzt, sagte ich, müsse sie nicht mehr alleine fahren. Ich stieg auf der Beifahrerseite ein, und wir fuhren zur FH-Bielefeld. Es war ungewohnt. Wann saß ich zuletzt neben ihr und bin nicht gefahren? Wir schauten uns an und lächelten. Ich freute mich auf einen entspannten, gemeinsam Tag voller neuer Eindrücke und Entdeckungen. Während der Fahrt veranstaltete ich eine kleine Stadtrundfahrt durch Bielefeld, auf dessen Straßen ich meine Erinnerungen an meine Jugend und Unizeit aufleben ließ.

Die Fahrt war zu Ende. Schnell fanden wir einen Parkplatz. Ich sprang als Erster aus dem Auto und spürte, wie die Hitze mir entgegenschlug. Breitete die Arme aus und präsentierte voller Stolz die FH als hätte ich sie mit eigenen Händen gebaut.

»Gefällt mir nicht«, sagte sie. Ihre Mundwinkel lümmelten irgendwo da unten rum. Ich blickte mich überrascht um. Hatte ich etwas falsch gesehen oder übersehen? Alles erschien mir hell und klar. Die Sonne malte die Bäume, Straßen und Gebäude in warm-leuchtenden Farben aus. Draußen lief kein Mensch herum. Alles wirkte so ruhig, so friedlich und so ordentlich, als hätte jemand diesen Platz für sie herausgeputzt. Sauberkeit war ihr ganz wichtig. Hielt sie aber nicht vom Rauchen und Nebenwirkungen im Auto ab. Doch die FH sah wie immer aus. Leicht versteckt hinter mächtigen Bäumen, dessen Äste sich wild wie Haare eines Exzentrikers verzweigten. Das Gebäude selbst verfügte über den Charme einer Schule, an dessen Wänden sich übermotivierte Kreative ausgelassen hatten. Es wirkte halt etwas überschminkt. Was hatte sie denn erwartet?

Ich glaubte ihr nicht, behielt es aber für mich. Da steckte etwas anderes dahinter. Vielleicht fragte sie sich, ob und wie sie all das schaffen sollte. Wohnung kündigen, Job kündigen, Umzug, Ortswechsel, Großstadt, neue Wohnung, neuer Job. Kein Geld. Keine Freunde. Neuanfang. Unsicherheit. Zweifel.

»Hey«, warf ich ein, »du wirst dich dran gewöhnen. Ich bin doch auch hier und werde dir helfen!«

Da war ich wieder. Der Selbstlose. Der Hilfsbereite. Litt ich an einem Helfer-Syndrom? Aber vielleicht freute ich mich über diese seltene Gelegenheit, ihr mal helfen zu können. Sie war sehr unabhängig, selbstbewusst und musste alles selber machen. Momente, in denen sie Hilfe annahm waren selten. Momente, in dem sie um Hilfe bat, existierten nicht.

Ich blickte zu ihr. Wenn sie einen schwachen Moment hatte, erinnerte ich mich, dann wollte sie alleine sein, dann ging sie einfach weg. »Wir haben genug besichtigt«, sagte ich. »Lass uns etwas trinken gehen.« Ich führte sie nach oben ins Bernstein. Dann fiel mir noch etwas ein – etwas unberechtigt schlecht machen, das konnte sie schon immer!

Jetzt sitzt sie vor mir im weich-gepolsterten Sessel, dessen rot an ihren Seiten durchschimmert. Ihre Schultern hängen runter und ihr Kopf zwängt sich dazwischen, während ihre Hände Zuflucht in ihrem eigenen Schoss suchen. Es scheint, als würde sie am liebsten in dieser Weichheit versinken. All die Härte, die ich über all die gedehnte Unendlichkeit bei ihr wahrnahm, schien verschwunden zu sein. Wie ein Häufchen Elend sehe ich sie vor mir. In sich gekauert.

Das Bild irritiert mich, und ein Schauer ergreift mich. Ich zucke. Will mich zu ihr stürzten. Sie in den Arm nehmen. Sie trösten. Worte, wie »alles wird gut, wir schaffen das!« ihr zurufen. Aber – es gibt kein »Wir« mehr. Vor langer Zeit, beendete sie die Beziehung. Dann wieder. Dann wieder. Irgendwann war es endgültig. Irgendwann fehlte mir die Kraft für die Traurigkeit. Irgendwann kam der Zeitpunkt, als sich die Leichtigkeit wieder in meinem Leben einschlich. Schwere überkommt mich plötzlich und ein bekanntes Gefühl der Beklemmung aus längst vergangenen Tagen krabbelt meinen Hals hoch.

»Nein«, befehle ich mir, »bleib sitzen!« Sie ist selbst schuld. Ich blicke zu ihr. Nein, ich will nichts mehr von ihr. Ich bin nur hier, um einen Menschen, der mir mal viel bedeutete und noch etwas bedeutet, zu unterstützen.

Ich schaue sie an. Sehe ihren geneigten Kopf. Sehe vereinzelte Haare, die sich durcheinander nach vorne kräuseln. Sehe, wie sie immer noch zu Boden blickt. Sie so zu sehen, geht mir nahe. Ein Klumpen schmerzt in meinem Hals. Erhöht den Druck in meinem Kopf. Ein Brennen schnellt in meinen Gaumen, in meine Nase, in meine Ohren, in meine Augen. Nein! Damit muss sie alleine zurechtkommen. Ich atme tief ein. Schmecke die warmen Sonnenstrahlen. Auf einmal fühle ich mich – euphorisch und losgelöst – so frei. Und dann sehe ich etwas, etwas, dass ich nie zuvor gesehen hatte und ein Wort stürmt aus den Tiefen in mein Bewusstsein: Kontrolle!

All die Zeit schätzte ich sie völlig falsch ein. Sie schien mir so stark, so unabhängig. Sie hatte ein Bild von sich erschaffen, das so stark war, dass wir beide daran glaubten und am Ende beide daran scheiterten. Vielleicht war ich zu hart und hätte wie dieser Sessel sein müssen. Vielleicht galt ihr Schutzschild nur Menschen, die ihr nahe waren. Das Wort »Schutzschild« hallt in meinen Kopf nach. Ein Schutzschild wird nur bei Gefahr eingesetzt.

Sie wirkt so zerbrechlich, so unsicher. Ja. Unsicher. Schwach. Meine Gedanken kreisen um diese Worte. Im Grunde war sie immer dieser Mensch gewesen. Es ging ihr immer nur um Kontrolle. Kontrolle bedeutet die Vermeidung von Angst. Kontrolle ist Sicherheit und Schutz. Daher ließ sie nie einen Moment der Schwäche zu. Immer fand sie etwas an mir auszusetzen. Immer forderte sie etwas Neues. Nie war es gut genug. Nie war ich gut genug. Bis zu diesem Moment dachte ich immer, es lag nur an mir und ich sei zu schwach. Dabei war es genau umgekehrt. Doch sie würde dies nie zugeben, denn damit glaubte sie, gäbe sie die »Kontrolle« ab. Stattdessen nutzte sie das Kritisieren, um Distanz zu wahren, um sich niemals emotional auf mich einzulassen. Nähe bedeutete Kontrollverlust und die Gefahr des Verletztwerdens. Sie übermalte ihre Schwäche mit Stärke. Sie kontrollierte nicht ihr Leben, sondern ihr Leben war in ein eigens geschaffenes Korsett gesteckt, das durch die Begegnung mit Menschen immer weiter zugeschnürt wurde. Menschen, die sie verletzt hatten und die sie nie wieder sehen wollte. Sie wollte nie mehr das »Opfer« sein und leiden. Doch diese Menschen waren ihre ständigen Begleiter. Hatten die Kontrolle über ihr Leben übernommen. Wir hingegen führten eine geschützte Beziehung. Eine Beziehung ohne Beziehung. Bei all ihrem Selbstschutz vergaß sie zwei wichtige Menschen: uns.

Ich fragte mich, warum ich nichts davon vorher sah.
Weil du ihr geglaubt hast!
Weil du ständig mit deinen vermeintlichen Fehlern beschäftigt warst!

»Wenn du Hilfe brauchst«, sagte ich in ruhigem Ton, »dann sag es mir. Ich unterstützte dich.«
Sie schaute auf und lächelte.

Tage später telefonierten wir wieder. Sie klang glücklich. Hatte ihre Wohnung gekündigt. Den Job noch nicht. Die FH – ja, die wolle sie doch nicht machen. Den Hans hätte sie kennengelernt. Sie ziehe bei ihm ein. Ich lachte. Mein Kopfschütteln sah sie nicht.

photo credit: eljoja cc


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