Das Geschenk oder die Mechanik im Kopf

Betrübt blickte ich aus dem Fenster des ersten Stocks auf das bunte Treiben der Läden, die unten in der Straße mit Lichterketten und Rabattschildern um die Gunst der Menschen warben. Ich saß im Café Knigge, inmitten von Düften aus frisch-gebackenen Waffeln und warmen Kaffees. Nichts davon interessierte mich. Ich lehnte meine Stirn gegen die kühle Scheibe. Sah ungeduldig hinüber zu Zara und konnte in den Glaskasten hineinschauen.

Die obere Etage war hell und klar. Die Mitarbeiterinnen darin gingen auf und ab. Ständig in Aktion. Keine Ruhe. Keine der Bewegungen und Handgriffe wirkten überflüssig. Sie schienen präzise und festgelegt zu sein. Schienen einer mir unbekannten Gesetzmäßigkeit zu folgen. Ab und an störten die Kunden diese Ordnung. Doch bevor das Chaos alles zu zerstören drohte, rückten die Mitarbeiterinnen ihre Ware zurecht und nichts deutete mehr auf das Vergangene hin.

Dort versuchte ich, sie zu entdecken. Fand sie aber nicht. Schaute herunter zum Eingang. Bahar müsste gleich Mittagspause haben und jeden Augenblick aus dem Laden herübereilen.

Ich wurde aus ihr nicht schlau! Was wollte sie von mir? Wollte sie überhaupt etwas – von mir? O. k., bei anderen Frauen erging es mir ähnlich, nur – das war mir herzlich egal. Wartete ich auf etwas? Vielleicht dachte sie das von mir. So’n Quatsch! Egal, für heute hatte ich mir etwas Besonderes ausgedacht.

Ich saß hier schon eine Weile. Ich kam fast eine halbe Stunde früher, um diesen Fensterplatz zu ergattern, der versteckt in der Ecke lag. Mein Herz klopfte voller Freude und Aufregung. Bleib locker und denk nicht nach!, befahl ich mir. Meine unnötigen und vielen Gedanken vermied ich damit nicht. Es half nichts und ich ärgerte mich, denn ich hatte herausgefunden: Immer wenn ich mich zu sehr auf etwas freute und es mir so schön im Geiste ausmalte, traf mit unglaublich wissenschaftlicher Präzision das Gegenteil dessen ein. Das klang absurd, da ich nichts für Aberglauben übrig hatte. Ich war Naturwissenschaftler! Es diente lediglich der eigenen Illusion, Dinge, die außerhalb der eignen Kontrolle lagen, beeinflussbar erscheinen zu lassen. Trotzdem, ich hatte den Verdacht, irgendjemand da oben machte sich einen Heidenspaß daraus.

Ich hatte alles für ihren kurzen Besuch vorbereitet. Zwei heiße Schokoladen mit Sahne und Schokostreusel standen auf dem Tisch. Bahar hatte es immer eilig. Sie meinte, sie hätte zu wenig Zeit. Fände unser Treffen nicht statt, dann würde sie vermutlich nur eine rauchen ohne Mittagspause. Heute hatte ich noch ein Päckchen auf den Tisch gelegt.

Ich blickte wieder aus dem Fenster. Die Scheibe war von meinem Atem beschlagen und der Abdruck meiner Stirn haftete noch daran, als ich jemand durch den Laden stürmen sah. Sie war es! Mein Herz machte »Bumm«. Sie ging mit energischen Schritten auf Knigge zu, ohne sich umzuschauen. Dann traf sie ein.

Sie kam direkt auf mich zu, ohne mich zu suchen. Sofort fielen mir ihre pechschwarzen Haare auf. Sie waren wieder streng nach hinten zu einem Pferdeschwanz verbunden, so fest, dass ich immer noch nicht sagen konnte, ob sich die Augenbrauen in ihrer natürlichen Position befanden oder von den Haaren nach oben gezogen wurden. Wenn sie allzu streng schaute, nannte ich Bahar liebevoll-neckisch Madame B.

Diese Augenbrauen, die perfekt gezogen waren, beschäftigten mich lange. Ich dachte, sie nutzte eine Schablone zum Nachzeichnen, bis sie mir erklärte, sie seien tätowiert. Ihre hellblauen Augen durchdrangen den Raum. Sie hatte feine Gesichtszüge und wundervoll geschwungene Lippen, die in sattem rot zu pulsieren schienen, da ihre Blässe dank der Kälte draußen einen noch helleren Kontrast bildete. Sie trug eine schwarze Bluse, die wegen ihrer üppigen Brüste sehr eng anlag. Die Bluse verschwand in ihrer hellbauen Jeans. Ihr Gürtel war schwarz, passend zu ihren Schuhen. Alles war aufeinander abgestimmt. Alles saß wie angegossen. Nichts bewegte sich oder wackelte. Nur ihr Pferdeschwanz wippte auf und ab. Sie sah nicht nur sehr sexy aus, sondern perfekt! Würde sie jetzt sagen »nimm mich«, ich hätte sie sofort hier vernascht! Mit einem Mal schoben sich ihre Augenbrauen zusammen und bildeten eine kleine Falte über ihrer Nase, als sie an meinem – an unserem Tisch ankam.

Sie beugte sich ein wenig zu mir hinunter und küsste mich auf die Wangen. Links und rechts. Ihre Lippen berührten nicht mein Gesicht, nur ihre kühlen Wangenknochen drückte sie an meine, bevor ich es schaffte, aufzustehen. Ich verstand die Logik nicht, die sich hinter ihrem »Mal zur Begrüßung auf den Mund küssen« und »mal nur auf die Wangen« verbarg. Ein duzend Mal hatten wir uns hier getroffen und nie wusste ich, was mich erwartete. Während ich wieder in Gedanken zu verschwinden drohte, traf mich der sinnlich, orientalische Duft ihres Parfüms. Verdammt!, ich machte mir zu viele und sinnlose Gedanken!

Sie setzte sich gegenüber mir hin und griff mit beiden Händen an die Tasse, um sich ihre Hände daran zu wärmen.
»Ist der für mich?«
Was für eine dämliche Frage. Meine Freude verflog. Keine Ahnung, was ich erwartet hatte.
»Ja«, sagte ich.

Sie nahm mit dem Löffel etwas Sahne und Schokostreusel aus ihrer Tasse. Ich fand an ihren Nasenflügeln eine leichte Errötung. Kleine Blutäderchen zeichneten sich ab. Sie hatte vermutlich häufig ihre Nase geputzt, die fein geformt war und den Anspruch erhob, über das Nasenbein hinauswachsen zu wollen.

»Oh, ist das auch für mich?« Sie hatte das Päckchen entdeckt. Diesmal wartete sie meine Antwort ab.
»Ja«, sagte ich.
»Was ist das?«
»Ein …«, ich zögerte. »Ein Abschiedsgeschenk.«
»Toll!« Sie lächelte, griff sofort danach, führte es an ihr Ohr und schüttelte es. Unglaublich, sie reagierte überhaupt nicht auf meine Provokation! Ich hatte das Gefühl, einer dieser Kunden zu sein, die ein Kleidungsstück hingeworfen hatten und das sie mit einem lässigen Handgriff wieder zurechtgerückt hatte. Ich schaute in ihre hellen und klaren Augen, die mir wie ein frisch gebohnerter Parkettboden erschienen, auf dem ich mich spiegeln konnte und jederzeit Gefahr lief, auszurutschen und mir eine blutige Nase zu holen.
»Es ist kein Überraschungsei.« Ich war leicht genervt.
»Ich weiß.« Sie schaute zu mir herüber und lächelte immer noch. Dann öffnete sie das Geschenk. Darin befand sich eine weitere Schachtel.

Die quadratische Schachtel war vollkommen aus Glas. Sie gewährte einen tiefen Blick in ihr Inneres. Bahar führte die Box ganz nah an ihr Gesicht heran. Ich sah, wie sie ihre Augen zusammenkniff und sich feine Falten bildeten. Zahnräder verschiedener Größen glänzten darin, griffen perfekt ineinander und führten zu einer Walze mit winzigen, eingestanzten Ausbeulungen, die ein unbekanntes Muster aufwiesen. Auf der Walze lag eine Art Metallkamm, dessen Zähne die Tonzungen bildeten. Ihr Mund öffnete sich leicht, während ihr Blick gespannt von den winzigen Zungen über die Walze zur Kurbel wanderte. Langsam führte sie ihren rechten Zeigefinger und Daumen an die Kurbel heran und begann, sie behutsam zu drehen.

Pling! Sie zuckte vor Freude und zog die Hand rasch von der Kurbel weg hin zu ihrem Mund. Versteckte kurz ihr Kichern, um sich dann wieder der Kurbel zu nähern. Sie begann, wieder zu drehen. Diesmal wagte sie mehr.

Pling, pling. Die Melodie klang metallisch und arhythmisch, denn wenn sie die Kurbel nach oben drehte, war sie langsamer als in dem Moment, wo sie die Kurbel von oben schwungvoll weiter nach unten weiterdrehte. Sie beobachtete mit kindlicher Neugier die einzelnen Tonzungen, wie sie auf der Walze auf und ab tanzten. Bei der nächsten Runde hatte sie den Dreh raus.

Pling, pling. Es klang schaurig-schön. Ich sah sie lächeln. Sie wirkte unbekümmert, glücklich. Warum konnte ich das nicht.

Plötzlich umarmte mich Bahar und küsst mich diesmal auf den Mund.
»Es ist wunderschön!« Etwas Zärtliches und Tröstendes lag in ihren Worten. Sie setzte sich hin.
»Als Kind«, sagte sie und schaute mich strahlend an, »habe ich mir immer eine Spieldose gewünscht.«
»Ja, das weiß ich«, sagte ich trocken und war insgeheim stolz auf mich.
»Ich vergesse immer wieder, wie viel du über mich weißt.« Ihre Augen leuchteten. »Mehr als alle anderen«, fügte sie hinzu. Sie lächelte freundlich.
Sah mich dann ernst an. »Über dich weiß ich eigentlich nix.«

Ich war baff. War da etwas dran? Sofort tauchten Gesichter einiger Frauen in meinem Kopf auf. Ja, sie sagten etwas Ähnliches. Folgte etwa mein Denken und Handeln dem immer gleichen Muster, um mir nahe Menschen auf Distanz zu halten? Kam vielleicht daher mein Drang, sie zu verstehen oder zu begreifen zu müssen? War es ein Ausdruck der Kontrolle? Nicht ihrer, sondern meiner Eigenen? Kontrolle bedeutete immer Kontrolle der eigenen Angst – der Angst, verletzt zu werden. Dieser Gedanke schreckte mich im ersten Moment auf, aber dann lag etwas Tröstliches und Versöhnliches darin, denn – mich konnte ich ändern.

Von alledem bekam sie nichts mit. Sie hob die Spieldose und betätigte mit großen Augen die Kurbel. Ein wundervoller und leiser Klang durchströmte den Raum. Und plötzlich kam mir der Gedanke: Ich höre die Musik und dessen Melodie berührt mich. Es war unerheblich, ob ich dessen Einzelteile kannte und die Mechanik verstand. Hätte ich sogar die Funktionsweise begriffen, so hätte ich mir trotzdem nie ausmalen können, wie sie zu klingen vermag!

»Ich muss jetzt los.« Sie schnellte hoch. Sofort stand ich auch auf. Nahm ihren Nacken in meine Hand, zog sie zu mir und küsste sie innig. Als ich sie losließ, stieß sie ein verlegenes »Hey« aus und lächelte etwas verwundert. Sie wirkte überrascht und amüsiert zugleich.
»Ich melde mich bei dir«, sagte sie und drehte sich um und ging.
Ich blickte ihr nach. Sah ihre Hüften auf und ab wippen, sah ihren knackigen Hintern in der perfekt sitzenden Jeans, sah etwas, was mir bisher nicht an ihr aufgefallen war – ihre Schuhe.

Kaum sichtbar löste sich die Farbe an manchen Stellen ab, und eine andere Farbe schien durchzuscheinen. Dann verschwand sie. Ich schaute wieder aus dem Fenster und konnte sehen, wie sie hineinging.

Mein Handy vibrierte. Ich bekam eine Textnachricht:
»Pling pling :-)))«
Ich lächelte.

photo credit: Village9991


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